URTEIL DES GERICHTSHOFES
26. Januar 1999 (1)
„Freizügigkeit der Arbeitnehmer Kombinierte Veranlagung der
Einkommensteuer und der Sozialversicherungsbeiträge Nichtanwendung eines
Höchstsatzes der Sozialbeiträge, der für Arbeitnehmer gilt, die ihr Recht auf
Freizügigkeit nicht ausgeübt haben, auf Arbeitnehmer, die ihren Wohnort von
einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegen Eventueller Ausgleich durch
Vorteile bei der Einkommensteuer Etwaige Unvereinbarkeit mit dem
Gemeinschaftsrecht Folgen“
In der Rechtssache C-18/95
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Gerechtshof
's-Hertogenbosch (Niederlande) in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
F. C. Terhoeve
gegen
Inspecteur van de Belastingdienst Particulieren/Ondernemingen buitenland
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 7 und
48 EG-Vertrag sowie des Artikels 7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68
des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer
innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2)
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten und Sechsten Kammer
P. J. G. Kapteyn in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten, der
Kammerpräsidenten G. Hirsch und P. Jann sowie der Richter G. F. Mancini
(Berichterstatter), J. C. Moitinho de Almeida, C. Gulmann, J. L. Murray, L. Sevón,
M. Wathelet, R. Schintgen und K. M. Ioannou,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer
Kanzler: D. Louterman-Hubeau, Hauptverwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
von Herrn Terhoeve, vertreten durch die Steuerberater F. W. van Eig und
S. Feenstra von der Kanzlei Moret Ernst & Young,
der niederländischen Regierung, vertreten durch Rechtsberater A. Bos,
Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
B. J. Drijber und I. Martínez del Peral Cagigal, Juristischer Dienst, als
Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen des Herrn Terhoeve, vertreten
durch S. Feenstra, der niederländischen Regierung, vertreten durch Rechtsberater
M. Fierstra, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
und der Kommission, vertreten durch Rechtsberater P. J. Kuijper als
Bevollmächtigten, in der Sitzung vom 17. März 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April
1998,
folgendes
Urteil
- 1.
- Der Gerechtshof 's-Hertogenbosch hat mit Beschluß vom 30. Dezember 1994, beim
Gerichtshof eingegangen am 23. Januar 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag
mehrere Fragen nach der Auslegung der Artikel 7 und 48 EG-Vertrag sowie des
Artikels 7 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15.
Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft
(ABl. L 257, S. 2) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Terhoeve (im
folgenden: Kläger) und dem Inspecteur van de Belastingdienst
Particulieren/Ondernemingen buitenland (Inspekteur der Steuerverwaltung für
Privatpersonen/Unternehmen Ausland; im folgenden: Beklagter), bei dem es um
die kombinierte Veranlagung der Einkommensteuer und der Sozialbeiträge für das
Jahr 1990 geht.
Das nationale Recht
- 3.
- Das niederländische Recht insbesondere die Algemene ouderdomswet (Gesetz
über die allgemeine Altersversicherung), die Algemene weduwen- en wezenwet
(Gesetz über die allgemeine Witwen- und Waisenversicherung), die Algemene
arbeidsongeschiktheidswet (Allgemeines Gesetz über die Versicherung für den Fall
der Arbeitsunfähigkeit) und die Algemene wet bijzondere ziektekosten
(Allgemeines Gesetz über besondere Krankheitskosten) sieht
Pflichtversicherungssysteme vor, die grundsätzlich für alle in den Niederlanden
wohnhaften Personen gelten.
- 4.
- Die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge steht in engem Zusammenhang mit
der Erhebung der Lohn- und Einkommensteuer. Bis 1990 wurden auf das für die
Einkommensteuer maßgebliche zu versteuernde Einkommen zwei getrennte
Abgaben erhoben: eine für die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge und die
andere für die Erhebung der eigentlichen Einkommensteuer. Um das Entstehen
eines Mißverhältnisses zwischen den entrichteten Beiträgen und den zu
erwartenden Leistungen auf der Grundlage der Sozialversicherungen zu verhindern,
sahen die Regelungen für die Sozialversicherungen vor, daß keine Beiträge erhoben
werden, soweit das Einkommen eine bestimmte Grenze übersteigt. Ferner war das
Höchsteinkommen für die Berechnung der Beiträge anteilsmäßig zu kürzen, wenn
der Betroffene nur für einen Teil des Jahres Beiträge schuldete.
- 5.
- Eine besondere Situation ergibt sich, wenn eine Person in einem Teil eines
Kalenderjahres in den Niederlanden und in einem anderen Teil dieses Jahres im
Ausland wohnt und in beiden Zeiten in den Niederlanden zu versteuernde
Einkünfte erzielt.
- 6.
- Bis 1990 regelte das Gesetz nicht die Frage, ob bei einem solchen Steuerpflichtigen
eine oder zwei Veranlagungen von den Einkünften des Kalenderjahres
vorzunehmen sind. In der Praxis wurden für die Erhebung der Einkommensteuer
zwei Veranlagungen vorgenommen: eine für die Zeit, in der der Steuerpflichtige
gebietsansässig war, die andere für die Zeit, in der er nichtgebietsansässig war. Die
Sozialbeiträge wurden dagegen auf einmal erhoben.
- 7.
- 1990 trat in den Niederlanden die sogenannte „Oort“-Regelung in Kraft, mit der
das nationale System der Erhebung der Einkommensteuer und der Sozialbeiträge
vereinfacht werden sollte. Seither werden diese verschiedenen Abgaben für
gebietsansässige und für nichtgebietsansässige Steuerpflichtige kombiniert und
aufgrund eines einzigen Veranlagungsbescheids erhoben.
- 8.
- Nach Artikel 62 der Wet op de inkomstenbelasting (Einkommensteuergesetz; im
folgenden: WIB) werden jetzt die Steuer auf das ausländische Einkommen und die
Steuer auf das niederländische Einkommen getrennt erhoben, wenn ein
Steuerpflichtiger in einem Kalenderjahr sowohl im Inland als auch im Ausland
steuerpflichtig ist. Ist der Steuerpflichtige auch beitragspflichtig zur
Sozialversicherung, so gelten die Bestimmungen über die Erhebung und die
Einziehung der Einkommensteuer entsprechend.
- 9.
- Die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge ist in den Niederlanden in der Wet
financiering volksverzekeringen (Gesetz über die Finanzierung der
Sozialversicherungen; im folgenden: WFV) geregelt. Nach Artikel 8 WFV
entspricht das bei der Berechnung der Beiträge zu berücksichtigende Einkommen
dem zu versteuernden Einkommen oder dem zu versteuernden Einkommen für
Gebietsansässige im Sinne der WIB. Da jedoch die Sozialversicherungsleistungen,
auf die der Steuerpflichtige Anspruch hat, nicht von der Höhe der entrichteten
Beiträge abhängen, werden diese nach Artikel 10 Absatz 6 WFV nur auf einen
Betrag erhoben, der der ersten Stufe im Rahmen der Einkommensteuer entspricht,
und übersteigen daher grundsätzlich nicht eine bestimmte Höhe (im folgenden:
Höchstbetrag).
- 10.
- Artikel 8 WFV gibt keine Rechtsgrundlage für die Erhebung der Beiträge in dem
Fall ab, daß ein Pflichtversicherter Einkünfte erzielt, die nicht der
Einkommensteuer für Gebietsansässige unterliegen. Gemäß Artikel 6 der
Uitvoeringsregeling premieheffing volksverzekeringen (Durchführungsregelung zur
Beitragserhebung für die Sozialversicherungen) gelten jedoch Personen, die
aufgrund von Tätigkeiten gegen ein Entgelt, das nicht der Einkommensteuer
unterliegt, versichert sind, für die Zwecke der Anwendung des Artikels 8 WFV als
auch für dieses Entgelt einkommensteuerpflichtig. Bei diesen Personen werden die
Nettoeinkünfte aus Tätigkeiten, aufgrund deren sie versichert sind, für die Zwecke
der Anwendung des Artikels 8 WFV dem für die Einkommensteuer maßgeblichen
zu versteuernden Einkommen eines Gebietsansässigen hinzugerechnet.
- 11.
- Unterliegt eine Person im selben Jahr der Steuer für Gebietsansässige und der
Steuer für Nichtgebietsansässige, so werden ihr zwei Bescheide über die
kombinierte Veranlagung zugestellt. Bei Steuerpflichtigen, die das ganze Jahr lang
dem Pflichtsystem der Sozialversicherungen angehörten, wird in jeden dieser beiden
Veranlagungsbescheide jedoch die Bemessungsgrenze aufgenommen, bis zu der die
Sozialversicherungsbeiträge erhoben werden können. Je nach Lage des einzelnen
Falles kann diese Regelung dazu führen, daß die Beiträge, die der Betroffene
schuldet, den nach einem Betrag entsprechend der ersten Stufe der
Einkommensteuertabelle berechneten Höchstbetrag übersteigen. In bestimmten
Fällen kann dieser Nachteil durch andere Vorteile im Zusammenhang damit
ausgeglichen oder sogar überkompensiert werden, daß das Einkommen für jeden
Zeitraum getrennt mit der Einkommensteuer belegt wird, was zur Anwendung
niedrigerer Steuersätze führen kann.
Der Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens
- 12.
- Vom 1. Januar bis zum 6. November 1990 wohnte und arbeitete der Kläger, ein
niederländischer Staatsangehöriger, im Vereinigten Königreich, da sein in den
Niederlanden niedergelassener Arbeitgeber ihn dorthin abgeordnet hatte. In dieser
Zeit wurde er nach dem niederländischen Recht für die Erhebung der
Einkommensteuer als nichtgebietsansässiger Steuerpflichtiger betrachtet. Daher
unterlagen die Einkünfte, die er durch seine Tätigkeit im Vereinigten Königreich
in den angegebenen Monaten erzielte, nicht der niederländischen
Einkommensteuer. Der Kläger war jedoch weiter in dem niederländischen
Pflichtsystem der Sozialversicherung versichert.
- 13.
- Am 7. November 1990 verlegte der Kläger seine Wohnung in die Niederlande und
wurde für die Zeit bis zum Ende dieses Jahres in diesem Staat für die Erhebung
der Einkommensteuer gebietsansässiger Steuerpflichtiger. In der mündlichen
Verhandlung vor dem nationalen Gericht erklärte er unbestritten, er habe 1990
seine Einkünfte nicht im wesentlichen in einem einzigen Mitgliedstaat erzielt.
- 14.
- Am 29. April 1992 unterwarf der Beklagte den Kläger für die Zeit, in der er
gebietsansässiger Steuerpflichtiger war, einer kombinierten Veranlagung, die die
Einkommensteuer und die Sozialversicherungsbeiträge umfaßte. Diese Veranlagung
wurde auf der Grundlage eines zu versteuernden Einkommens von 15 658 HFL
berechnet und umfaßte 1 441 HFL für Sozialversicherungsbeiträge, berechnet nach
einer Bemessungsgrundlage von 6 522 HFL. Der Kläger nahm den Einspruch, den
er zunächst gegen diese Veranlagung eingelegt hatte, zurück, so daß sie
bestandskräftig wurde.
- 15.
- Am 30. Juni 1992 unterwarf der Beklagte den Kläger für die Zeit, in der er
nichtgebietsansässiger Steuerpflichtiger war, einer kombinierten Veranlagung. Diese
umfaßte die Einkommensteuer, berechnet auf der Grundlage eines Einkommens
eines Gebietsansässigen von 16 201 HFL aus einer abhängigen Beschäftigung in
den Niederlanden und aus im selben Staat gelegenen Grundstücken, und
Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 9 309 HFL, berechnet auf einer
Bemessungsgrundlage von 98 201 HFL entsprechend dem Höchstbetrag gemäß
Artikel 10 Absatz 6 WFV.
- 16.
- Der Beklagte errechnete diesen Betrag der Beiträge insbesondere unter
Berücksichtigung der nicht der niederländischen Einkommensteuer
unterliegenden Einkünfte, die der Kläger 1990 durch seine abhängige
Beschäftigung im Vereinigten Königreich erzielt hatte.
- 17.
- Nach allem beliefen sich die vom Kläger mit den beiden Veranlagungsbescheiden
verlangten Sozialversicherungsbeiträge auf 10 750 HFL (1 441 HFL für die Zeit,
in der er gebietsansässig war, und 9 309 HFL für die Zeit, in der er
nichtgebietsansässig war). Nach den anwendbaren niederländischen
Rechtsvorschriften hätte jedoch ein Steuerpflichtiger, der das ganze Jahr lang
gebietsansässig oder nichtgebietsansässig war, Sozialversicherungsbeiträge nur in
Höhe des Höchstbetrags von 9 309 HFL entrichtet.
- 18.
- Es steht fest, daß die Entrichtung eines den Höchstbetrag übersteigenden Beitrags
keinen Anspruch auf zusätzliche Leistungen eröffnet, denn die
Sozialversicherungsleistungen, auf die der Steuerpflichtige Anspruch hat, hängen
nicht von der Höhe der entrichteten Beiträge ab. Daher hatte der Kläger zwar
einen den Höchstbetrag für das Jahr 1990 übersteigenden Betrag zu entrichten,
erwarb jedoch nicht mehr Ansprüche als Personen, die Beiträge in Höhe des
Höchstbetrags gezahlt hatten.
- 19.
- Der Kläger legte zunächst Einspruch gegen den zweiten Veranlagungsbescheid
beim Beklagten ein, der diesen zurückwies.
- 20.
- Sodann erhob er Klage beim Gerechtshof s'-Hertogenbosch, zu deren Begründung
er insbesondere geltend machte, daß die niederländische Regelung, die zweiunterschiedliche Veranlagungen vorsehe, während der für die Erhebung der
Sozialbeiträge vorgesehene Höchstbetrag nicht nach Maßgabe des abgedeckten
Zeitraums gekürzt werde, mit Artikel 48 EG-Vertrag unvereinbar sei. Bei der
Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge für die Zeit vom 1. Januar bis zum 6.
November 1990 liege eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der
Staatsangehörigkeit in dem Sinne vor, daß die Aus- und Einwanderer, die eine
höhere Beitragslast zu tragen hätten, im wesentlichen Staatsangehörige der anderen
Mitgliedstaaten seien.
- 21.
- Ohne seine Ansicht näher zu belegen, wandte der Beklagte im Verfahren vor dem
nationalen Gericht ein, daß beinahe die Hälfte der tatsächlich
nichtgebietsansässigen Steuerpflichtigen und derjenigen, die als solche gälten,
niederländische Staatsangehörige seien; der Kläger sah sich nicht in der Lage, dies
substantiiert zu bestreiten.
- 22.
- Aus dem Vorlagebeschluß geht hervor, daß das Vorbringen des Klägers nach den
Beweisregeln, die im niederländischen Abgabenrecht gelten, daher zurückzuweisen
war.
- 23.
- Erstens ist sich das nationale Gericht nicht sicher, ob der dem Ausgangsverfahren
zugrunde liegende Fall von Artikel 48 EG-Vertrag erfaßt wird. Zweitens fragt es
sich, ob das niederländische Beweisrecht uneingeschränkt Anwendung finden kann
oder ob das Gemeinschaftsrecht auf dem betreffenden Gebiet bestimmte
Grundsätze oder Regeln aufstellt. Drittens stellt es Überlegungen über den
Anwendungsbereich der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer an. Schließlich fragt es sich, welche Konsequenzen
zu ziehen sind, falls die niederländische Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht
unvereinbar ist.
- 24.
- Der Gerechtshof 's-Hertogenbosch hält es für erforderlich, den Gerichtshof nach
der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu befragen; er hat daher das Verfahren
ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über die Freizügigkeit der
Arbeitnehmer auf eine Person anwendbar, die die Staatsangehörigkeit eines
Mitgliedstaats besitzt, im Laufe des Jahres ihren Wohnort von einem
anderen Mitgliedstaat in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger sie ist,
verlegt und in diesem Jahr nacheinander in jedem dieser Mitgliedstaaten
einer abhängigen Beschäftigung nachgeht, wobei sie ihr Einkommen in
diesem Jahr nicht größtenteils in einem der beiden Mitgliedstaaten erzielt
hat?
2. a) Ergibt sich aus den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und
insbesondere aus den Artikeln 7 und 48 Absatz 2 EWG-Vertrag und
Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68, daß bei Anwendung
von Rechtsvorschriften, die Aus- und Einwanderer bei der
Beitragserhebung für Sozialversicherungen benachteiligen, von der
Vermutung auszugehen ist, daß diese Benachteiligung hauptsächlich
Staatsangehörige anderer Staaten betrifft?
b) Wenn die Frage unter a zu bejahen ist, handelt es sich dann hier um
eine widerlegbare oder um eine unwiderlegbare Vermutung?
c) Wenn es sich um eine widerlegbare Vermutung handelt, richten sich
dann die Möglichkeiten einer Widerlegung der Vermutung allein nach
dem nationalen Prozeßrecht, insbesondere den Bestimmungen des
Beweisrechts des betroffenen Mitgliedstaats, oder stellt auch das
Gemeinschaftsrecht hierfür Erfordernisse auf?
d) Wenn das Gemeinschaftsrecht Erfordernisse für die Widerlegung
dieser Vermutung aufstellt, welche Bedeutung kommt dann im
vorliegenden Fall folgenden Umständen zu?
Die beklagte Behörde hat geltend gemacht, daß die viel
umfangreichere Gruppe von im Ausland wohnenden
Steuerpflichtigen fast zur Hälfte aus Staatsangehörigen des
Staates der Behörde bestehe, ohne Näheres zur Begründung
dieser Behauptung vorzutragen;
der Betroffene, der eine mittelbare Diskriminierung aufgrund
der Staatsangehörigkeit geltend gemacht hat, hat die Richtigkeit
der vorgenannten Behauptung der Behörde nicht bestritten; und
die beklagte Behörde ist bedeutend besser als der Betroffene in
der Lage, Näheres zusammenzutragen, womit sich die genannte
Vermutung gegebenenfalls widerlegen läßt.
3. Gibt es eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die es, ungeachtet der
Frage, ob eine (mittelbare) Diskriminierung aufgrund der
Staatsangehörigkeit vorliegt, verbietet, daß ein Mitgliedstaat einen
Arbeitnehmer, der in einem Kalenderjahr seinen Wohnort von diesem
Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat verlegt oder umgekehrt, im
Jahr der Verlegung des Wohnorts bei der Erhebung von
Sozialversicherungsbeiträgen höher belastet als einen Arbeitnehmer, der
unter im übrigen gleichen Umständen während dieses ganzen Jahres seinen
Wohnort in einem Mitgliedstaat beibehält?
4. Läßt sich eine höhere Beitragsbelastung im Sinne der dritten Frage, wenn
sie grundsätzlich gegen Artikel 7 oder Artikel 48 Absatz 2 EWG-Vertrag
oder gegen irgendeine andere Bestimmung des Gemeinschaftsrechts
verstößt, durch einen oder mehrere der folgenden Umstände, auch im
Zusammenhang gesehen, rechtfertigen?
Die Maßnahme ergibt sich aus einer Regelung, durch die die
Erhebung der Einkommensteuer und der Sozialversicherungsbeiträge
zur Vereinfachung der Erhebung weitgehend, wenn auch nicht
vollständig, zusammengefaßt werden soll;
Lösungen, die unter Aufrechterhaltung dieses Zusammenhangs die
genannte höhere Beitragsbelastung verhindern, führen zu technischen
Problemen bei der Durchführung oder zu der Möglichkeit einer
Überkompensation;
in manchen Fällen, wenn auch nicht im vorliegenden Fall, ist die
Gesamtbelastung durch Einkommensteuer und
Sozialversicherungsbeiträge für Ein- und Auswanderer im Jahr der
Verlegung des Wohnorts geringer als für Personen, die unter im
übrigen gleichen Umständen während des ganzen Jahres denselben
Wohnort haben.
5. a) Wenn eine höhere Beitragsbelastung im Sinne der dritten Frage gegen
Artikel 7 oder Artikel 48 Absatz 2 EWG-Vertrag oder gegen
irgendeine andere Bestimmung des Gemeinschaftsrechts verstößt, sind
dann bei der Beurteilung der Frage, ob es sich in einem konkreten
Fall tatsächlich um eine höhere Belastung handelt, allein die
Arbeitseinkünfte zu berücksichtigen oder auch andere Einkünfte des
Betroffenen wie Erträge aus Immobilien?
b) Wenn andere Einkünfte als das Arbeitsentgelt unberücksichtigt zu
bleiben haben, wie ist dann zu berechnen, ob und inwieweit die
Beiträge vom Arbeitseinkommen zu einem Nachteil für den
betroffenen Wanderarbeitnehmer führen?
6. a) Wenn im vorliegenden Fall ein Verstoß gegen eine Vorschrift des
Gemeinschaftsrechts vorliegt, ist das nationale Gericht dann
verpflichtet, diesen Verstoß zu beseitigen, auch wenn dies eine Wahl
zwischen verschiedenen Alternativen erfordert, von denen jede Vor-
und Nachteile hat?
b) Wenn das nationale Gericht in diesem Fall tatsächlich einen Verstoß
gegen das Gemeinschaftsrecht beseitigt, gibt dann das
Gemeinschaftsrecht Hinweise in bezug auf die Wahl, die es hierzu
unter verschiedenen denkbaren Lösungen treffen muß?
Zur ersten Frage
- 25.
- Mit seiner ersten Frage möchte das nationale Gericht im Kern wissen, ob sich ein
Arbeitnehmer gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger er ist, auf
Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 berufen kann,
wenn er in einem anderen Mitgliedstaat gewohnt hat und dort einer abhängigen
Beschäftigung nachgegangen ist.
- 26.
- Nach ständiger Rechtsprechung sind die Vertragsbestimmungen über die
Freizügigkeit und die zu ihrer Durchführung erlassenen Maßnahmen nicht auf
Tätigkeiten anwendbar, die keine Berührung mit irgendeinem der Sachverhalte
aufweisen, auf die das Gemeinschaftsrecht abstellt, und die mit keinem relevanten
Element über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (Urteile vom 28.
Januar 1992 in der Rechtssache C-332/90, Steen, Slg. 1992, I-341, Randnr. 9, vom
16. Januar 1997 in der Rechtssache C-134/95, USSL N° 47 di Biella, Slg. 1997,
I-195, Randnr. 19, vom 5. Juni 1997 in den Rechtssachen C-64/96 und C-65/96,
Uecker und Jacquet, Slg. 1997, I-3171, Randnr. 16, und vom 2. Juli 1998 in den
Rechtssachen C-225/95 bis C-227/95, Kapasakalis u. a., Slg. 1998, I-0000,
Randnr. 22).
- 27.
- Wie der Gerichtshof jedoch insbesondere im Urteil vom 23. Februar 1994 in der
Rechtssache C-419/92 (Scholz, Slg. 1994, I-505, Randnr. 9) ausgeführt hat, fällt
jeder Gemeinschaftsbürger, der von seinem Recht auf Freizügigkeit der
Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat eine
Berufstätigkeit ausgeübt hat, unabhängig von seinem Wohnort und seiner
Staatsangehörigkeit unter die genannten Vorschriften.
- 28.
- Wenngleich sich somit im vorliegenden Fall der Kläger als niederländischer
Staatsangehöriger gegenüber den niederländischen Behörden auf die
Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer berufen will, hat dies
keinen Einfluß auf die Anwendbarkeit dieser Bestimmungen. Denn der Betroffene
rügt gerade, daß er benachteiligt worden sei, weil er seine Tätigkeit in einem
anderen Mitgliedstaat ausgeübt habe.
- 29.
- Somit ist auf die erste Frage zu antworten, daß sich ein Arbeitnehmer gegenüber
dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger er ist, auf Artikel 48 EG-Vertrag und
Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 berufen kann, wenn er in einem anderen
Mitgliedstaat gewohnt hat und dort einer abhängigen Beschäftigung nachgegangen
ist.
Zur zweiten und zur dritten Frage
- 30.
- Mit der zweiten und der dritten Frage, die zweckmäßigerweise gemeinsam zu
behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob die
Artikel 7 und 48 EG-Vertrag oder Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68
es einem Mitgliedstaat verbieten, bei einem Arbeitnehmer, der im Laufe des Jahres
seinen Wohnort von einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegt hat, um dort
einer abhängigen Beschäftigung nachzugehen, höhere Sozialversicherungsbeiträge
zu erheben, als sie unter gleichen Umständen von einem Arbeitnehmer geschuldet
würden, der seinen Wohnort das ganze Jahr über in dem betreffenden
Mitgliedstaat beibehalten hat, wobei der erstgenannte Arbeitnehmer im übrigen
keine zusätzlichen Sozialleistungen erhält. Für den Fall, daß die Antwort auf diese
Frage vom Vorliegen einer Diskriminierung der Arbeitnehmer abhängig sein sollte,
die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, möchte das nationale Gericht
noch wissen, ob unter diesen Umständen eine solche Diskriminierung zu vermuten
ist, und gegebenenfalls, ob und unter welchen Voraussetzungen diese Vermutung
widerlegbar ist.
- 31.
- Vorab ist zum einen festzustellen, daß gemäß Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der
Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme
der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren
Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der
Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6)
eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie
gewöhnlich angehört, im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt wird und von
diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das
Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt wird, weiterhin den Vorschriften des
ersten Mitgliedstaats unterliegt, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit
zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für
welche die Entsendungszeit abgelaufen ist.
- 32.
- Somit unterliegt eine Person, die sich in der Situation des Klägers befindet, in
bezug auf das System der sozialen Sicherheit grundsätzlich in der Zeit, in der sie
ihrer Beschäftigung im Vereinigten Königreich nachgeht, weiterhin den
niederländischen Rechtsvorschriften.
- 33.
- Zum anderen ist das Argument zu untersuchen, das die niederländische Regierung
in der mündlichen Verhandlung vorgebracht hat. Sie hat zunächst daran erinnert,
daß das Gemeinschaftsrecht die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt lasse, ihre
Systeme der sozialen Sicherheit auszugestalten (Urteile vom 7. Februar 1984 in der
Rechtssache 238/82, Duphar, Slg. 1984, 523, vom 17. Februar 1993 in den
Rechtssachen C-159/91 und C-160/91, Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-637, vom 26.
März 1996 in der Rechtssache C-238/94, García u. a., Slg. 1996, I-1673, und vom
17. Juni 1997 in der Rechtssache C-70/95, Sodemare u. a., Slg. 1997, I-3395), und
sodann geltend gemacht, daß es den nationalen Behörden freistehe, die
Einzelheiten der Finanzierung dieser Sicherheit festzulegen.
- 34.
- Zwar bestimmt mangels einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene das Recht
eines jeden Mitgliedstaats, unter welchen Voraussetzungen das Recht auf Anschluß
an ein System der sozialen Sicherheit oder die Verpflichtung hierzu besteht, doch
müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das
Gemeinschaftsrecht beachten (vgl. insbesondere Urteile vom 28. April 1998 in der
Rechtssache C-120/95, Decker, Slg. 1998, I-1831, Randnrn. 22 f., und in der
Rechtssache C-158/96, Kohll, Slg. 1998, I-1931, Randnrn. 18 f.).
- 35.
- Daß die im Ausgangsverfahren streitige nationale Regelung die Finanzierung dersozialen Sicherheit betrifft, kann daher die Anwendung der Bestimmungen des
Vertrages und insbesondere derjenigen, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer
betreffen, nicht ausschließen.
- 36.
- Zu Artikel 48 EG-Vertrag, der als erstes zu prüfen ist, hat der Gerichtshof
mehrfach festgestellt, daß diese Bestimmung einen fundamentalen Grundsatz
ausführt, der in Artikel 3 Buchstabe c EG-Vertrag verankert ist, worin es heißt, daß
die Tätigkeit der Gemeinschaft im Sinne des Artikels 2 die Beseitigung der
Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten umfaßt
(vgl. insbesondere die Urteile vom 7. Juli 1976 in der Rechtssache 118/75, Watson
und Belmann, Slg. 1976, 1185, Randnr. 16, und vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache
C-370/90, Singh, Slg. 1992, I-4265, Randnr. 15).
- 37.
- Der Gerichtshof hat ferner die Ansicht vertreten, daß sämtliche
Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit den Gemeinschaftsangehörigen die
Ausübung jeder Art von Berufstätigkeit im Gebiet der Gemeinschaft erleichtern
sollen und Maßnahmen entgegenstehen, die die Gemeinschaftsangehörigen
benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine
wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen (Urteile vom 7. Juli 1988 in der
Rechtssache 143/87, Stanton, Slg. 1988, 3877, Randnr. 13, Singh, Randnr. 16, und
vom 15. Dezember 1995 in der Rechtssache C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921,
Randnr. 94).
- 38.
- In diesem Zusammenhang haben die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten
insbesondere das unmittelbar aus dem Vertrag abgeleitete Recht, ihr Herkunftsland
zu verlassen, um sich zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in das Gebiet
eines anderen Mitgliedstaats zu begeben und sich dort aufzuhalten (vgl.
insbesondere Urteile vom 5. Februar 1991 in der Rechtssache C-363/89, Roux, Slg.
1991, I-273, Randnr. 9, Singh, Randnr. 17, und Bosman, Randnr. 95).
- 39.
- Bestimmungen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern
oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen, um von seinem Recht auf
Freizügigkeit Gebrauch zu machen, stellen daher Beeinträchtigungen dieser
Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen
Arbeitnehmer Anwendung finden (Urteil vom 7. März 1991 in der Rechtssache
C-10/90, Masgio, Slg. 1991, I-1119, Randnrn. 18 f., und Bosman, Randnr. 96).
- 40.
- Ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats könnte davon abgehalten werden, den
Mitgliedstaat, in dem er wohnt, zu verlassen, um im Sinne des Vertrages einer
abhängigen Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat nachzugehen, wenn er
zur Zahlung höherer Sozialbeiträge, als wenn er seinen Wohnort das ganze Jahr
über im selben Mitgliedstaat beibehält, verpflichtet wird, ohne insoweit in den
Genuß zusätzlicher, diese höhere Belastung ausgleichender Sozialleistungen zu
kommen.
- 41.
- Somit stellt eine nationale Regelung wie diejenige, um die es im Ausgangsverfahren
geht, ein grundsätzlich durch Artikel 48 EG-Vertrag verbotenes Hemmnis für die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer dar. Daher erübrigen sich Überlegungen, ob eine
mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vorliegt, die nach den
Artikeln 7 oder 48 EG-Vertrag oder aber Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr.
1612/68 verboten sein könnte, oder ob eine in diesem Zusammenhang geltende
Vermutungsregelung besteht.
- 42.
- Somit ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, daß Artikel 48 EG-Vertrag es einem Mitgliedstaat verbietet, bei einem Arbeitnehmer, der im Laufe
des Jahres seinen Wohnort von einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegt hat,
um dort einer abhängigen Beschäftigung nachzugehen, höhere
Sozialversicherungsbeiträge zu erheben, als sie unter gleichen Umständen von
einem Arbeitnehmer geschuldet würden, der seinen Wohnort das ganze Jahr über
in dem betreffenden Mitgliedstaat beibehalten hat, wobei der erstgenannte
Arbeitnehmer im übrigen keine zusätzlichen Sozialleistungen erhält.
Zur vierten Frage
- 43.
- Im Licht der Antwort auf die vorhergehenden Fragen ist davon auszugehen, daß
das vorlegende Gericht mit seiner vierten Frage Auskunft darüber begehrt, ob sich
eine grundsätzlich gegen Artikel 48 EG-Vertrag verstoßende höhere
Beitragsbelastung für Arbeitnehmer, die ihren Wohnort von einem Mitgliedstaat
in einen anderen verlegen, um dort einer abhängigen Beschäftigung nachzugehen,
erstens dadurch, daß sie sich aus einer auf Vereinfachung und Koordinierung der
Erhebung der Einkommensteuer und der Sozialversicherungsbeiträge gerichteten
Regelung ergibt, zweitens durch mit anderen Erhebungsmodalitäten verbundene
technische Schwierigkeiten oder drittens dadurch rechtfertigen läßt, daß in
bestimmten Fällen andere mit der Einkommensteuer zusammenhängende Vorteile
den Nachteil bei den Sozialbeiträgen ausgleichen oder sogar überkompensieren
können.
- 44.
- Zur ersten erwähnten Rechtfertigungsmöglichkeit ist zu bemerken, daß es den
Mitgliedstaaten grundsätzlich weiterhin freisteht, die Einzelheiten der Erhebung der
Steuern und der Sozialversicherungsbeiträge zu regeln, und daß sie sicherlich das
Ziel der Vereinfachung und Koordinierung dieser Einzelheiten verfolgen können.
So erwünscht die Verfolgung dieses Zieles aber auch sein mag, kann sie doch nicht
eine Beeinträchtigung der Rechte rechtfertigen, die der einzelne aus den
Bestimmungen des Vertrages ableitet, in denen seine Grundfreiheiten verankert
sind.
- 45.
- Das gleiche gilt für die zweite erwähnte Rechtfertigungsmöglichkeit. Denn
Erwägungen administrativer Art können es nicht rechtfertigen, daß ein
Mitgliedstaat von den Vorschriften des Gemeinschaftsrechts abweicht. Dieser
Grundsatz gilt erst recht, wenn eine derartige Abweichung darauf hinausläuft, die
Ausübung einer der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten auszuschließen oder
einzuschränken (in diesem Sinne Urteil vom 4. Dezember 1986 in der Rechtssache
205/84, Kommission/Deutschland, Slg. 1986, 3755, Randnr. 54).
- 46.
- Zur dritten vom nationalen Gericht dargestellten Rechtfertigungsmöglichkeit genügt
die Feststellung anhand der Akten, daß eine Person, die sich in der Lage des
Klägers befindet, keinen Vorteil in bezug auf die Berechnung der
Einkommensteuer genießt. Daß andere Arbeitnehmer, die ihren Wohnort im Laufe
des Jahres verlegt haben und die sich in anderen Situationen befinden, in bezug auf
die Berechnung der Einkommensteuer begünstigt sein können, kann das
beschriebene Hemmnis für die Freizügigkeit weder beseitigen noch ausgleichen (in
diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 1988 in der Rechtssache 20/85, Roviello, Slg. 1988,
2805).
- 47.
- Somit ist auf die vierte Frage zu antworten, daß sich eine grundsätzlich gegen
Artikel 48 EG-Vertrag verstoßende höhere Beitragsbelastung für Arbeitnehmer,
die ihren Wohnort von einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegen, um dort
einer abhängigen Beschäftigung nachzugehen, weder dadurch rechtfertigen läßt,
daß sie sich aus einer auf Vereinfachung und Koordinierung der Erhebung der
Einkommensteuer und der Sozialversicherungsbeiträge gerichteten Regelung ergibt,
noch durch anderen Erhebungsmodalitäten entgegenstehende technische
Schwierigkeiten, noch dadurch, daß in bestimmten Fällen andere mit der
Einkommensteuer zusammenhängende Vorteile den Nachteil bei den
Sozialbeiträgen ausgleichen oder sogar überkompensieren können.
Zur fünften Frage
- 48.
- Mit seiner fünften Frage begehrt das nationale Gericht im wesentlichen Auskunft
darüber, ob bei der Beurteilung der Frage, ob die Belastung mit
Sozialversicherungsbeiträgen, die ein Arbeitnehmer zu tragen hat, der seinen
Wohnort von einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegt hat, um dort einer
abhängigen Beschäftigung nachzugehen, höher als diejenige ist, die ein
Arbeitnehmer zu tragen hat, der seinen Wohnort im selben Mitgliedstaat
beibehalten hat, nur Einkünfte aus einer abhängigen Beschäftigung oder auch
andere Einkünfte wie Erträge aus Immobilien zu berücksichtigen sind.
- 49.
- Zum einen gilt Artikel 48 EG-Vertrag nur für Arbeitnehmer, und zwar für solche,
die umziehen, um eine Beschäftigung zu suchen. Daher fallen Personen, die
Einkünfte aus anderen Quellen, insbesondere aus Grundstücken, ziehen, als solche
nicht unter diese Bestimmung.
- 50.
- Doch kann sich ein einzelner, der vom persönlichen Geltungsbereich des Artikels
48 erfaßt wird, einer nationalen Regelung, die ein Hemmnis für seine Freizügigkeit
enthält, unabhängig davon, woraus dieses Hemmnis erwächst, unter Berufung auf
diese Bestimmung widersetzen.
- 51.
- Zum anderen ist es mangels einer gemeinschaftlichen Harmonisierung der
nationalen Rechtsvorschriften grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten, zu
bestimmen, welche Einkünfte bei der Berechnung der Sozialversicherungsbeiträge
zu berücksichtigen sind.
- 52.
- Doch darf das nationale Recht bei der Bestimmung der Höhe der
Sozialversicherungsbeiträge unter Berücksichtigung nicht nur der Arbeitseinkünfte,
sondern auch anderer Einkünfte nicht auf diesem Weg zu einer Benachteiligung
der Arbeitnehmer, die im Laufe eines Jahres umziehen, um ihre Tätigkeit in einem
anderen Mitgliedstaat auszuüben, gegenüber denjenigen führen, die ihren Wohnort
im selben Mitgliedstaat beibehalten. Daher ist in diesem Fall die Natur der
Einkünfte, die bei der Festsetzung der Sozialversicherungsbeiträge berücksichtigt
werden, im Ausgangsverfahren unerheblich.
- 53.
- Somit ist auf die fünfte Frage zu antworten, daß bei der Beurteilung der Frage, ob
die Belastung mit Sozialbeiträgen, die ein Arbeitnehmer zu tragen hat, der seinen
Wohnort von einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegt hat, um dort einer
abhängigen Beschäftigung nachzugehen, höher als diejenige ist, die ein
Arbeitnehmer zu tragen hat, der seinen Wohnort im selben Mitgliedstaat
beibehalten hat, alle nach den nationalen Rechtsvorschriften für die Bestimmung
der Höhe der Beiträge maßgebenden Einkünfte, gegebenenfalls einschließlich der
Erträge aus Immobilien, zu berücksichtigen sind.
Zur sechsten Frage
- 54.
- In Anbetracht der Antworten auf die vorhergehenden Fragen, betrifft die sechste
Frage die Folgen, die eventuell an die Feststellung der Unvereinbarkeit der
streitigen nationalen Regelung mit Artikel 48 EG-Vertrag durch das nationale
Gericht geknüpft sind.
- 55.
- Wie der Gerichtshof bereits mit seinem Urteil vom 4. Dezember 1974 in der
Rechtssache 41/74 (Van Duyn, Slg. 1974, 1337) für Recht erkannt hat, erzeugt
Artikel 48 des Vertrages unmittelbare Wirkungen in den Rechtsordnungen der
Mitgliedstaaten und verleiht den einzelnen Rechte, die die innerstaatlichen
Gerichte zu wahren haben.
- 56.
- Ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung ist jedes nationale Gericht verpflichtet,
das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es dem
einzelnen verleiht, zu schützen, indem es nötigenfalls jede möglicherweise
entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet läßt.
- 57.
- Im übrigen haben, wenn das nationale Recht unter Verstoß gegen das
Gemeinschaftsrecht eine unterschiedliche Behandlung mehrerer Personengruppen
vorsieht, die Angehörigen der benachteiligten Gruppe Anspruch auf die gleiche
Behandlung und auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen
Betroffenen, wobei diese Regelung, solange das Gemeinschaftsrecht nicht richtig
durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt (vgl. sinngemäß Urteile vom
4. Dezember 1986 in der Rechtssache 71/85, Federatie Nederlandse Vakbeweging,
Slg. 1986, 3855, vom 24. März 1987 in der Rechtssache 286/85, McDermott und
Cotter, Slg. 1987, 1453, vom 13. Dezember 1989 in der Rechtssache C-102/88,
Ruzius-Wilbrink, Slg. 1989, 4311, vom 27. Juni 1990 in der Rechtssache C-33/89,
Kowalska, Slg. 1990, I-2591, und vom 7. Februar 1991 in der Rechtssache C-184/89,
Nimz, Slg. 1991, I-297).
- 58.
- Somit sind die Sozialversicherungsbeiträge, die von Arbeitnehmern geschuldet
werden, die ihren Wohnort von einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegen, um
dort einer abhängigen Beschäftigung nachzugehen, in gleicher Höhe wie die
Beiträge festzusetzen, die von Arbeitnehmern geschuldet würden, die ihren
Wohnort im selben Mitgliedstaat beibehalten haben.
- 59.
- Daher ist auf die sechste Frage zu antworten, daß Arbeitnehmer, die ihren
Wohnort von einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegen, um dort einer
abhängigen Beschäftigung nachzugehen, falls die streitige nationale Regelung mit
Artikel 48 EG-Vertrag unvereinbar sein sollte, Anspruch auf Festsetzung ihrer
Sozialversicherungsbeiträge in gleicher Höhe wie diejenigen Beiträge haben, die
von Arbeitnehmern geschuldet würden, die ihren Wohnort im selben Mitgliedstaat
beibehalten haben.
Kosten
- 60.
- Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der
Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben
haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das
Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Gerechtshof 's-Hertogenbosch mit Beschluß vom 30. Dezember
1994 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Ein Arbeitnehmer kann sich gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen
Staatsangehöriger er ist, auf Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 7 der
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft berufen, wenn
er in einem anderen Mitgliedstaat gewohnt hat und dort einer abhängigen
Beschäftigung nachgegangen ist.
2. Artikel 48 EG-Vertrag verbietet es einem Mitgliedstaat, bei einem
Arbeitnehmer, der im Laufe des Jahres seinen Wohnort von einem
Mitgliedstaat in einen anderen verlegt hat, um dort einer abhängigen
Beschäftigung nachzugehen, höhere Sozialversicherungsbeiträge zu erheben,
als sie unter gleichen Umständen von einem Arbeitnehmer geschuldet
würden, der seinen Wohnort das ganze Jahr über in dem betreffenden
Mitgliedstaat beibehalten hat, wobei der erstgenannte Arbeitnehmer im
übrigen keine zusätzlichen Sozialleistungen erhält.
3. Eine grundsätzlich gegen Artikel 48 EG-Vertrag verstoßende höhere
Beitragsbelastung für Arbeitnehmer, die ihren Wohnort von einem
Mitgliedstaat in einen anderen verlegen, um dort einer abhängigen
Beschäftigung nachzugehen, läßt sich weder dadurch rechtfertigen, daß sie
sich aus einer auf Vereinfachung und Koordinierung der Erhebung der
Einkommensteuer und der Sozialversicherungsbeiträge gerichteten
Regelung ergibt, noch durch anderen Erhebungsmodalitäten
entgegenstehende technische Schwierigkeiten, noch dadurch, daß in
bestimmten Fällen andere mit der Einkommensteuer zusammenhängende
Vorteile den Nachteil bei den Sozialbeiträgen ausgleichen oder sogar
überkompensieren können.
4. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Belastung mit Sozialbeiträgen, die ein
Arbeitnehmer zu tragen hat, der seinen Wohnort von einem Mitgliedstaat
in einen anderen verlegt hat, um dort einer abhängigen Beschäftigung
nachzugehen, höher als diejenige ist, die ein Arbeitnehmer zu tragen hat,
der seinen Wohnort im selben Mitgliedstaat beibehalten hat, sind alle nach
den nationalen Rechtsvorschriften für die Bestimmung der Höhe der
Beiträge maßgebenden Einkünfte, gegebenenfalls einschließlich der Erträge
aus Immobilien, zu berücksichtigen.
5. Arbeitnehmer, die ihren Wohnort von einem Mitgliedstaat in einen anderen
verlegen, um dort einer abhängigen Beschäftigung nachzugehen, haben, falls
die streitige nationale Regelung mit Artikel 48 EG-Vertrag unvereinbar sein
sollte, Anspruch auf Festsetzung ihrer Sozialversicherungsbeiträge in
gleicher Höhe wie diejenigen Beiträge, die von Arbeitnehmern geschuldet
würden, die ihren Wohnort im selben Mitgliedstaat beibehalten haben.
Kapteyn Hirsch Jann
Mancini Moitinho de Almeida Gulmann Murray
Sevón Wathelet Schintgen Ioannou
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. Januar 1999.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias